Dialogische Präsenz und offene Auseinandersetzung

Der Auftrag der Katholischen Akademien

Datum:
Freitag, 1. Juli 2016

Der Auftrag der Katholischen Akademien

Vortrag zur Wiedereröffnung der Akademie des Bistums Mainz, Erbacher Hof, am 31. Januar 2016 in Mainz

I.

Um es gleich zu sagen: Wir feiern mit gutem Grund die Wiedereröffnung des Erbacher Hofs, der Akademie des Bistums Mainz. Auch wenn die Kirche angesichts ihrer langen Geschichte eher zögernd ist bei solchen Jubiläen, so ist es angebracht, der Gründung der Kirchlichen Akademien nach dem Zweiten Weltkrieg besonders zu gedenken. Sie haben sich schon einen festen Platz erobert in der Geschichte der Erwachsenenbildung. Dies gilt aber auch für die deutsche Bildungsgeschichte überhaupt. Die Kirchlichen Akademien haben unter den Bildungseinrichtungen - wie schon gesagt - einen festen Platz erobert und eingenommen.

Aber es geht in erster Linie nicht nur um institutionelle Gesetzmäßigkeiten und Erfolge. Die Akademien kennzeichnen das kirchliche Leben von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart in besonderem Maße, mindestens verglichen mit der Zwischenkriegszeit. Ein Historiker sieht in den Akademien einen herausragenden Sammelpunkt für die neue Geisteskultur aus christlichen Motiven nach dem Krieg. Ein langjähriger Leiter einer der ältesten Akademien, Philipp Boonen (Aachen), erblickt in den Akademien die „überraschendsten, risikoreichsten, aber vielleicht auch hoffnungsvollsten Lebensäußerungen beider Kirchen nach dem großen Krieg". Sogar Rudolf Augstein, der Herausgeber des „Spiegel", antwortete in Tutzing einmal auf die Frage, warum er an einer Akademietagung teilnehme: „Die Akademien sind das Beste, was die Kirchen nach 1945 gemacht haben."

Dies wäre wohl nicht möglich gewesen, ohne daß die geistige und kirchliche Situation schon länger nach einer solchen Form des beständigen Gespräches zwischen Kirche und Welt drängte. Offenbar konnte sich diese Notwendigkeit im Umbruch nach dem Krieg, wo man eher Neues wagte, besser durchsetzen.

II.

Es ist nicht notwendig, im einzelnen das Entstehen und die Geschichte der Kirchlichen Aka-demien nachzuzeichnen. Dafür gibt es eine Reihe von Artikeln und auch monographischen Abhandlungen. Die Grundzüge sind auch übereinstimmend festgehalten. Die Schaffung einer Evangelischen Akademie geht zunächst in der Konzeption auf eine Denkschrift des damaligen Tübinger, später Hamburger Theologen Helmut Thielicke zurück, der bereits im Oktober 1942 im Blick auf eine Erneuerung Deutschlands von einer solchen Notwendigkeit sprach. Hier darf man nicht vergessen, daß Thielicke engsten Kontakt mit der Freiburger Widerstandsgruppe hatte und in ihr mitwirkte. Zugleich war er eng verbunden mit dem evangelischen Pfarrer Eberhard Müller, der bereits mit Landesbischof Theophil Wurm und dem Kulturpolitiker Theodor Bäuerle für den 29. September 1945 eine erste Tagung für „Männer des Rechts und der Wirtschaft" nach Bad Boll einlud. Dieses Treffen gilt als die erste Akademie-Tagung. Helmut Thielicke hatte nachweislich Kontakte mit dem Gründungsdirektor von Bad Boll, Eberhard Müller.

Man darf jedoch nicht nur auf die nachkriegsbedingte Situation mit vielen entwurzelten und der Kirche entfremdeten Menschen denken, die neu angesprochen werden konnten und soll-ten. Der Neuanfang der Kirchlichen Akademien braucht deswegen nicht geschmälert zu wer-den, aber er ist doch sehr mitgetragen von Tendenzen und Traditionen der Vorzeit. Dies gilt für die evangelische Seite im Blick auf die Laienbewegung in den Studentengemeinden der NS-Zeit (Deutsche Christliche Studentenvereinigung), für die „Evangelischen Wochen" der 30er Jahre (hier hat Eberhard Müller seine Erfahrungen gemacht), für die Evangelische Volksbildungsbewegung, für den Evangelisch-Sozialen Kongreß, die Apologetische Centrale, aber auch für viele theologische Ansätze, nicht zuletzt bei dem schon genannten Helmut Thielecke und bei Dietrich Bonhoeffer. Manches lag einfach gleichsam in der Luft, wie man z.B. auch bei den Schweizer Heimstätten-Tagungen sehen kann. Das Wort „Akademie" wird übrigens bereits in der Volkshochschulbewegung der Weimarer Zeit gebraucht. Schließlich darf man manche Vorleistungen jüdischer Volkspädagogik nicht vergessen, wie z.B. bei Eugen Rosenstock und Martin Buber. Aber auch Namen wie Joseph Wittig und Viktor von Weizsäcker dürfen hier als entferntere Anreger Erwähnung finden.

Ich will damit das Verdienst der Akademiegründungen vor allem im evangelischen Bereich in ihrer wegweisenden Bedeutung keineswegs einschränken. Die evangelischen Initiativen hatten hier einen Vorsprung, gaben wesentliche Impulse und einen richtungsweisenden Anstoß, ja waren Vorbilder für die ersten katholischen Gründungen. Wenn jedoch gesagt wird, das Modell der konfessionellen Akademie habe bei den Katholiken erst mit einer gewissen Phasenverzögerung Widerhall gefunden , dann ist eine solche Aussage sehr differenzierungsbedürftig. Die unbestreitbare Nähe zeigt sich bei der Gründung der Katholischen Akademie des Bistums Rottenburg in Stuttgart-Hohenheim. Dafür begannen bereits im Jahr 1947 die ersten Gespräche, die förmliche Gründung dieser ältesten Akademie im katholischen Bereich fand im Jahr 1950 statt.

Es gab hier auch verschiedene Tendenzen und Traditionen, die Pate standen. Auf der einen Seite war es die soziale Bildungsarbeit, aus der heraus einige Akademien entstanden, wie die Kommende (Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn) im Jahr 1946, das Katholisch-Soziale Institut der Erzdiözese Köln in Bad Honnef im Jahr 1947 und die „Soziale Akademie des Bistums Münster" (Franz-Hitze-Haus) im Jahr 1952 zeigen. Dies ist eine wichtige Wurzel der Katholischen Akademien. Diese Anstöße gehen zum Teil weit zurück. Hier sind der Volksverein für das Katholische Deutschland (Ludiwg Windthorst, Franz Hitze) ebenso zu nennen wie die Jugendbewegung (z.B. Werkwochen des Quickborn auf Burg Rothenfels, Romano Guardini), die Arbeit in den Studentengemeinden, aber auch der Einfluß wichtiger Kulturzeitschriften wie das „Hochland" (1903 bis 1971) oder etwa das Schrifttum und die Arbeit der Akademischen Bonifatius-Einigung. An dieser Stelle wird eine zweite Wurzel erkennbar, nämlich die Arbeit der diözesanen Bildungswerke und die Bemühungen um eine seelsorglich motivierte Struktur zwischenmenschlicher Begegnung. Dies wird z.B. erkennbar in der schon frühen Gründung der „Akademie für Erwachsenenbildung der Diözese Würzburg" im Jahr 1951, die mit der Tradition der Dom-Schule - so heute noch der Name - in Verbindung steht. Es mag auch nicht nur Zufall sein, daß man sowohl in Bornheim-Walberberg bei den Dominikanern (1954) als auch in Lingen-Holthausen (1963) auf die Tradition der „Heimvolkshochschulen" zurückgegriffen hat. So wird erkennbar, daß es abwegig ist, wie es leider in manchen Darstellungen geschieht, die Errichtung katholischer Akademien ausschließlich durch die Anstöße aus dem Evangelischen Raum oder gar durch das Zweite Vatikanische Konzil begründet zu sehen.

Im übrigen kristallisierte sich im Lauf der Zeit stärker ein Akademie-Typ heraus, der eine engere Ausrichtung auf die wissenschaftliche Reflexion zum Ziel hatte, einschließlich Zivilisation und Technik. Hier waren die Kontakte zu den Hochschulen stark, zum Teil auch durch wissenschaftliche Beiräte (Kath. Akademie in München, Rabanus-Maurus-Akademie für die Bistümer Fulda, Limburg und Mainz). Natürlich war dies keine Konkurrenz. Das Proprium der Akademien ist der Bezug des wissenschaftlichen Problemdenkens zur Lebensgestaltung des Einzelnen und der Gesellschaft in der Gegenwart. Gerade dies ermöglicht und fördert eine gute Zusammenarbeit von Wissenschaft und Theologie, Hochschulen und Akademie.

Vielleicht gehören die etwas späteren Akademie-Gründungen eher diesem Typus an, der freilich hier eher eine gewisse Tendenz andeutet und sich mit anderen Formen überschneidet. Hier ist neben den Akademien der Erzdiözese Freiburg (1955/56) und der schon genannten Rabanus-Maurus-Akademie (1955), aus der auch unsere Akademie hervorging, ganz besonders die 1957 erfolgte Gründung der Katholischen Akademie in Bayern (München) zu nennen, die schon durch ihre Aufgabenstellung für alle bayerischen Diözesen eine ganz besondere Stellung erlangte. Bald wurde sie mehr und mehr, ohne die jeweils eigene Bedeutung der einzelnen Akademien zu relativieren, zu der exemplarischen Einrichtung auf katholischer Seite überhaupt. Ich brauche dies nicht im einzelnen aufzuzeigen. Man kann dies auch an der Katholischen Akademie Hamburg sehen, die 1973 gegründet wurde.

Es ist wohl auch kein Zufall, daß Julius Kardinal Döpfner, Erzbischof von München und Freising, damals auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, am 1. September 1973 eine heute noch lesenswerte Festansprache zur Eröffnung der Katholischen Akademie Hamburg hielt.

Diese Gründung katholischer Akademien wäre nicht möglich gewesen ohne eine Gruppe von Pionieren, die heute genannt werden müssen: Alfons Auer (Rottenburg-Stuttgart), Klaus Hemmerle (Freiburg), Hermann Boventer (Köln) und Karl Forster (München). Unter denen, die mit dem „Leiterkreis der Katholischen Akademien in der Bundesrepublik Deutschland" (1958) diese Gründungen gleichsam in der zweiten Generation fortsetzen, möchte ich Direk-tor Dr. Franz Henrich (München) von der wohl angesehensten und einflußreichsten Akademie nennen, der diese Aufgabe seit 1967 fortsetzt. Nur nebenbei möchte ich erwähnen, daß die Ansprachen der zuständigen Bischöfe bei der Gründung und den Jubiläen von einer mutigen Treue der meisten Bischöfe zu diesen neuen Bildungseinrichtungen zeugen. Ich denke nur an die Zeugnisse der Kardinäle Wendel, Döpfner, Ratzinger und Wetter.

III.

Warum hat diese Idee im evangelischen und im katholischen Bereich so gezündet? Was ist jenseits historischer Erinnerung der bleibende Impuls für diese überraschende Akzeptanz und außerordentliche Fruchtbarkeit? Wo liegen die richtungsweisenden Anstöße, die auch morgen noch Gültigkeit haben?

Die Akademien sind besondere Stätten der Begegnung von Kirche und Welt. Dies setzt bis zu einem gewissen Grad eine Distanz, ja sogar Entfremdung zwischen beiden voraus. Lange Zeit gab es zwischen der neuzeitlich geprägten Welt, die durch Autonomie und Emanzipation geprägt war, ein Sichabkapseln der säkularen Welt gegenüber Kirchen, die die gegenwärtige Bedeutung von Glaube, Religion und kirchlicher Gemeinschaft nur unzulänglich vermitteln konnten. Vor allem der nicht selten unangemessen starke Rückzug auf Autorität schaffte nicht nur Unverständnis, sondern neue Gräben. Dies galt aber nicht nur im Bereich der Wissenschaft, sondern wurde, besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, mehr und mehr eine Signatur des Verhältnisses zur modernen Welt überhaupt, wie sich an den Konflikten z.B. um die Demokratie und die Menschenrechte, Kultur und Kunst ablesen läßt. Nun darf man diese Auseinandersetzung nicht undifferenziert beurteilen. So wenig bloße Frontstellung zwischen Kirche und moderner Welt eine Antwort sein konnte, so wenig tauglich waren, wie sich oft erst später herausstellt, alle Strategien bloßer Anknüpfung oder gar Anpassung. Die Kirchen taten sich schwer, zwischen einem konservativen und einem progressiven Denk- und Verhaltensstil einen wirklich überzeugenden, eigenen Weg konstruktiver, schöpferischer Mitte zu finden.

In dieser Situation war es zunächst notwendig, einen Raum für die neue Begegnung zu schaf-fen, der eine gewisse Unabhängigkeit von den engeren kirchlichen Strukturen bedeutete und der damit ein unvoreingenommenes Miteinander ermöglichte. Die Akademien haben manch-mal wegen dieser notwendigen Selbständigkeit kirchliche Kritik erfahren. Auf katholischer Seite ist dies gewiß öfter der Fall gewesen.. Aber zugleich muß man feststellen, daß die ka-tholischen Kirchenleitungen durch ihr Amtsverständnis auch wiederum sich tiefer mit den Akademien solidarisiert haben. Denn aus der Tiefe christlicher und darum auch kirchlicher Verantwortung war weder eine Flucht ins Schweigen noch in ein Getto erlaubt. Die Sendung der Kirche für die Welt duldete keine Resignation. Es gab schließlich vom Auftrag Jesu Christi her so etwas wie eine „Kirche im Anspruch der Welt" (so der Titel des Festvortrags von Kardinal Döpfner am 01.09.1973), von der sie eben um der Sendung willen nicht lassen durfte. Es gab viele biblische Motive für die Aufnahme dieser Aufgabe. Die Kirche mußte viele Herausforderungen der modernen Welt annehmen, diese selbst aber auch bei ihren Schwächen und Nöten provozieren. Schließlich konnte sie auch nur Anwalt der Schwachen sein, wenn sie bereit war, zu den Brennpunkten dieser Welt und Zeit aufzubrechen.

Dafür war eine neue Stätte notwendig. Der eher monologische Verkündigungscharakter des Evangeliums, der zweifellos auch seine Bedeutung hat, wenn er die Unableitbarkeit und Un-verwechselbarkeit der Frohbotschaft in die Welt hineinsprechen soll, war dafür weniger ge-eignet. Darum wurde der Dialog maßgebend für die Präsenz der Kirche in der heutigen Welt, und dies längst vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Mit Dialog ist freilich nicht ein end-loses Reden oder gar ein unverbindliches Geschwätz gemeint, sondern der zielbewußte Dis-kurs, der zwar seine Flexibilität und Offenheit hat, aber eben auch von Hause aus sich auf Verstehen und Verständigung hin bewegt. Dieser Dialog ist darum nichts anderem als der Wahrheit verpflichtet. In diesem Sinne knüpft die Einrichtung der Kirchlichen Akademien in unserer Gegenwart an die Tradition der antiken Akademie, die ja bekanntlich, wenn auch in sehr verschiedenen Formen, vom athenischen Forum Platos im 4. Jahrhundert (ca. 385 v.Chr.) bis zu ihrer Schließung im Jahr 529 dauerte. Manches von diesen 900 Jahren ist eingegangen in das europäische Ideal von Wahrheitserkenntnis und Wissenschaft, aber auch ein wenig in die vielfältigen Einrichtungen mit dem Namen „Akademie".

Dies macht die besondere Offenheit der Akademie aus, daß sie ihre Freiheit nicht im Sinne von Beliebigkeit versteht, sondern wirklich universal, d.h. nach allen Richtungen hin, zum Hören und Sehen bereit ist. Sie unterliegt keinen Nützlichkeitserwägungen und ist in diesem Sinne „akademisch" im besten Sinn des Wortes. Dies ergibt einen einzigartigen Freiheits-raum. Er ist geprägt von höchstem Ernst, weil es um die Wahrheit geht. In diesem Sinne gehören zu diesem Gespräch das sorgfältige Hören aufeinander, das Wachsen im Ringen um Einsicht, die große Bereicherung durch den Anderen und Fremden, das oft schmerzliche Überschreiten der eigenen engen Grenzen und die Kommunikation in der einen Wahrheit. Alle haben an ihr teil und bewegen sich in ihr, auch wenn es noch nicht zu einem vollen Konsens ausreicht. Verständigung und andere Weisen partiellen Einvernehmens sind Stufen der Wahrheitserkenntnis. Dazu gehört auch, daß Verdrängtes wiederentdeckt wird, Entstelltes wieder aufleuchtet und Unterdrücktes befreit wird. Die Suche nach der Wahrheit ist immer schon ein Kampf mit dem Schein, eine Unterscheidung der Geister und ein Stück Eroberung gegen die Macht der Verzerrung und des Irrtums. Die Akademie ist in diesem Sinne nicht „parteilich", wenn es um die Wahrheit geht. Wohl kann sie „parteilich" werden, wenn es um die Verletzung der Menschenwürde und eine grundlegende Benachteiligung der Armen und Schwachen geht. Die Akademie darf aber deswegen nicht nur zu einer Stätte mit weitgehend bloß gesellschaftskritischen und politischen Themen werden. Für manche Themen, die eher verborgen sind, muß sie oft erst eine qualifizierte Öffentlichkeit herstellen. Wenn es diesem Forum gelingt, für sensible Probleme alternative Lösungswege aufzuzeigen, hat sie besonderes, sicher auch seltenes Glück. Die Akademie ist menschenfreundlich, weil es in ihr diese Freiheit zur Wahrheit gibt, auch und gerade wenn darüber gerungen und gestritten wird. Nicht zuletzt dadurch dient die Akademie nicht nur der Enthüllung verschleierter Konflikte, sondern ist auch eine beständige Einübung in Toleranz und Geduld im Umgang miteinander.

Wie bei allen tiefer führenden Gründungen haben die Kirchlichen Akademien, nicht ohne Anleihen auch bei anderen, neue Arbeitsformen entdeckt für die Verwirklichung ihres Zieles. Dabei kam es auf den freien Dialog und die freiwillige Teilnahme, eine gewisse Dauer der Veranstaltung und eine begrenzte Teilnehmerzahl an. Es gab allgemeine Informationstagungen und Tagungen mit bestimmten Berufsgruppen, sogenannte „Querschnittstagungen", „Seminare", „Konsultationen", „Foren", „Studientage" usw. Immer ging es darum, durch diese Arbeitsformen möglichst viele zum Hören und Sprechen, jedenfalls zum Mitwirken zu bringen, gerade auch im Blick auf Minderheitsmeinungen und Randgruppen. Hier konnte sie zu Gehör kommen.

Es bleibt noch eine wichtige Dimension. Schon die platonische Akademie wußte, daß die Erkenntnis der Wahrheit nicht nur eine Sache des Intellekts ist. Man muß die Vernunft immer wieder auch von falschen Neigungen reinigen, damit sie wahrheitsfähig wird und bleibt. Askese in vieler Hinsicht gehört zur platonischen Akademie. Die platonische Tradition hat auch immer wieder die Grundeinsicht formuliert, daß man zur Erkenntnis nicht nur Scharfsinn, sondern auch ein Minimum an Sympathie zur Sache braucht. In diesem Sinne gehören Erkenntnis und Liebe zusammen. Man sieht nur mit dem Herzen gut, sagt der Kleine Prinz bei Saint-Exupéry. Erkenntnis der Wahrheit hat nicht nur eine Vertiefung des eigenen Lebens, ja der eigenen Innerlichkeit zur Voraussetzung und zur Folge, sondern erfordert auch eine gewisse Lebensgemeinschaft. Die Freiheit zum zwecklosen Denken und zum unverzweckten Gespräch muß immer wieder eingeübt werden. Darum ist wenigstens ein Stück weit Lebensgemeinschaft auch ein Element der Arbeit kirchlicher Akademien. Deshalb gehören schöpferische Pausen für Gespräche in kleinen Kreisen, gemeinsame Mahlzeiten, Besinnung, Gebet und Gottesdienste zum Leben der kirchlichen Akademien. Jede gute Akademietagung braucht eine solche fragmentarische, vorläufige Vorwegnahme des „guten Lebens", die vor allem in den verschiedenen Gestalten des Feierns sich ereignet. Es ist darum ein gutes Symbol, daß es kein Haus einer Katholischen Akademie ohne eigene Kapelle oder Meditationsraum gibt. Man trifft gerne seine Freunde in den Akademieveranstaltungen wieder.

Ich habe schon öfter darauf hingewiesen, welche Bedeutung die Katholischen Akademien im Zentrum der Städte mit den katholischen Schulen und Krankenhäusern auch für das Leben der Pfarrgemeinden haben, ein wichtiges Zeugnis nach innen und nach außen. Gerade für unsere Städte sind diese Kristallisationszentren des geistigen Lebens, diese Brücken zwischen Öffentlichkeit und Kirche von nicht zu übersehender Bedeutung, wie auch die Katholische Akademie in der Bundeshauptstadt Berlin erweist. Dies gilt besonders auch für die Bistümer nach 1989/90, dem Gewinn der deutschen Einheit.

IV.

Die Katholischen Akademien haben sich hervorragend in der Bewältigung der großen Span-nung, die ihnen aufgegeben ist, geschlagen. Sie haben dies jeweils in einem eigenen Stil ge-leistet, so daß die einzelnen Akademien ihr eigenes Gesicht behalten haben.

Was kann man sich für die Zukunft besonders wünschen? Zunächst eigentlich nur, daß die Akademien ihrem Gründungsauftrag treu bleiben, wozu auch ein Offenbleiben und Mitgehen in der jeweiligen Gegenwart gehört. Wenn ich mir drei Wünsche erlaube, so geschieht dies nur, um einige Perspektiven zu verstärken, die ohnehin in der Arbeit schon leitend sind:
• Je stärker die Arbeit der Katholischen Akademien in die säkulare Umwelt ausgreift und sich ihren Tendenzen stellt, um so mehr muß sie in sich selbst gut und fest verwurzelt sein. Nur eine mit sich identische und bei aller Vielfalt auch in sich geeinte Akademie kann sich auch auf jede neue Zeitgenossenschaft einlassen, ohne Angst haben zu müssen, sich darin zu verlieren. Darum ist es gut, wenn die Akademien immer wieder auch zurückgebunden sind an die Kirche und die Kirchenleitungen. Sie sollten dies weniger als Gängelung ihrer Freiheit, sondern als Schutz im Sinne einer stärkeren Verwurzelung im eigenen Mutterboden verstehen. Ich bleibe nochmals beim Bild des Baumes: Die weit verzweigten Äste des Baumes brauchen ein tiefes Wurzelwerk, wenn sie Wind und Sturm standhalten sollen. Wir verlassen uns dabei nicht auf uns selbst, auf unsere Strukturen und Institutionen. Sie sind wertvolle Stütze und Hilfe. Nur einer gibt Wachstum und Gedeihen.
• In unserer heutigen Situation wird fast alles unter dem Gesichtspunkt des Konsums einge-schätzt. Dieser Umgang mit der Wirklichkeit macht auch vor der Bildung nicht Halt. Die Vorherrschaft von Angebot und Nachfrage, das fast willkürliche Auswählenkönnen, das beinahe unendlich erscheint, und das Zusammenbasteln oft recht widersprüchlicher Ele-mente haben angesichts der postmodernen Mentalität Hochkonjunktur. Wahre Bildung ist zwar diesem Trend auch ausgesetzt, darf aber dem Schein der Warenwelt nicht erliegen. Gerade die Bildung muß zur Transparenz und zur verläßlichen Orientierung befähigen. Die Themen der Akademien und ihre Aussagen dürfen nicht von der Unverbindlichkeit bestimmt werden, die viele heute bewundern.
Die Akademien müssen bei aller Universalität und Offenheit ihres Suchens den Mut haben, ihren Standort zu bezeugen. Es gibt in vielen grundsätzlichen Fragen die Notwendigkeit, tolerant, also ohne Fanatismus und Fundamentalismus, entschieden Zeugnis für Gott in unserer Welt abzulegen. Wir dürfen uns im geistigen und spirituellen Wettbewerb, der heute überall mehr oder minder offen im Gang ist, mit unserer eigenen Stimme nicht verstecken. Flagge zeigen, ohne sich nur in der eigenen Selbstbehauptung zu zelebrieren, ist eine wichtige Forderung unserer Stunde. Wer den Pluralismus als Basis unseres Zusammenlebens voraussetzt, muß sich zwar immer wieder gegen alle gesellschaftliche Desintegration um gemeinsame Grundüberzeugungen kümmern („Grundwerte" und „Leitkultur"), aber er muß auch seine eigene, unverwechselbare Stimme zu Gehör bringen. Sonst gehen die besten Einrichtungen unter oder verdoppeln bzw. vervielfältigen nur das, was ohnehin schon ist. Dies wird gerade auch bei der heutigen Konkurrenz der Medien für die Akademien zu bedenken sein. Nur wenn nicht alles Unterhaltung wird, bewahren sie ihre Kraft.
• Dieses entschiedene Zeugnis bezieht sich vor allem auf den Kernbestand des christlichen Glaubens. Wir setzen ihn voraus, aber in den Köpfen und Herzen auch vieler Mitchristen hat er oft noch eine kindliche Gestalt, die den heutigen Anforderungen nicht gewachsen sein kann. Darum ist es elementar notwendig, alle Bemühungen um neue Synthesen unse-rer Glaubensinhalte, wie sie von alters her das „Credo" und auch die „Zehn Gebote" zum Ausdruck bringen, neu fruchtbar zu machen. Dabei können sowohl die aktualisierten Aus-legungen der klassischen Glaubenszeugnisse als auch neue Versuche, z.B. Kurzformeln des Glaubens, hilfreich sein. Wir brauchen jedenfalls einen großen missionarischen Elan, damit der konkrete Glaube nicht austrocknet und unsere Fundamente genügend tragfähig bleiben.

Zu Beginn der Wirksamkeit der Katholischen Akademien hat man davon gesprochen, daß diese Einrichtungen „Vorfeld", „Vortrupp", ja zwischen Kirche und Welt so etwas wie ein „Dritter Ort" sein sollen. In der Zwischenzeit haben sich die Akademien so gut bewährt, daß sie nicht als ein extravaganter Platz zwischen Kirche und Welt, Himmel und Erde erscheinen, der vielleicht sogar mit besonderen Privilegien ausgezeichnet ist, sondern die Katholischen Akademien gehören zur Kirche und sind Kirche. Sie sind nicht die Kirche. Katholische Akademien sind kein Ersatz für Gemeinden. Aber sie sind etwas für alle Unentbehrliches, nämlich die Fenster der Kirche zur modernen Welt hin. Sie haben die Horizonte der Kirche erweitert und haben neue Räume für den kirchlichen Auftrag erschlossen. Dies gilt auch für unsere Akademie im Bistum Mainz, den Erbacher Hof.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Es gilt das gesprochene Wort. Im Original sind eine Reihe von Fußnoten enthalten

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz